News Lunch

News sind für den Geist, was Zucker für den Körper ist. News sind appetitlich, leicht verdaulich und gleichzeitig höchst schädlich. Die Medien füttern uns mit kleinen Häppchen trivialer Geschichten, mit Leckerbissen, die unseren Hunger nach Wissen aber keineswegs stillen. Anders als bei Büchern und langen, gut recherchierten, langen Artikeln, stellt sich beim Newskonsum keine Sättigung ein. Wir können unbegrenzte Mengen von Nachrichten verschlingen; sie bleiben billige Zuckerbonbons. Die Nebenwirkungen zeigen sich – wie beim Zucker – erst mit Verzögerung.

Seit fast zehn Jahren habe ich deshalb keine Zeitung gelesen, keine online News konsumiert, kein TV geschaut und kein Radio gehört. Ich lebe gänzlich ohne News – und kann die Wirkung dieser Freiheit aus erster Hand schildern.In meinem Buch DIE KUNST DES DIGITALEN LEBENS liste ich die wichtigsten Gründe gegen den News-Konsum auf und zeige, wie auch Sie die Informationsflut meistern können. Hier ist eine Idee, wie wir der Verdummung durch die News nicht nur als Einzelpersonen, sondern auch gesellschaftlich entgehen können. Und die geht so:

Essen muss jeder. Besonders mittags. Manchmal esse ich allein in meinem Büro. Das geht schnell, und ich kann nebenher ein Hörbuch hören. Manchmal sind es geschäftliche Mittagessen. Und manchmal treffe ich mich mit dem einen oder anderen Freund (und, ja doch, dazu gehören auch Journalisten). Egal wer mein Gegenüber sein mag, ich habe mir angewöhnt ihm zuerst jeweils diese Frage zu stellen: Wenn wir die Servietten anschließend wieder zusammenfalten, nach welchen Kriterien beurteilen wir, ob dieses Mittagessen ein gelungenes Mittagessen war? Die Antwort lautet meistens: Wenn ich von meinem Lunch-Partner (oder er von mir) etwas Wahres und Relevantes erfahren hat, das mir oder ihm bisher unbekannt war – eine neue Perspektive, die zum besseren Weltverständnis beiträgt.

Besonders wertvoll und vergnüglich wird ein solcher Lunch immer dann, wenn jeder Partner sich auf genau einenBeitrag konzentriert. Das erlaubt es, in die Tiefe zu gehen, statt an der Oberfläche zu surfen. Außerdem lerne ich, wie mein Gegenüber mit seinem Thema umgeht, damit ringt, wir er dem Thema Erkenntnisse abgewinnt  –  und vice versa. Falls der Lunchpartner ein Journalist ist, wird er mir die wichtigste Story schildern, an der er arbeitet. Nicht zwei Storys. Nicht drei. Sondern eine. So erfahre ich die Nuancen der Geschichte, die Grautöne, die Generatoren des Events, den Kontext und die Haltung des Journalisten (die sogenannte Meta-Information).

Nach fünfzehn Minuten wechseln wir, und ich bin dran. Er wiederum erfährt von mir von einem Problem – einem einzigen, nicht zwei oder drei – das mich derzeit umtreibt. Das kann das Kapitel eines Buches sein oder eine unternehmerische Idee. Auch dies fünfzehn Minuten lang. Der Rest der Zeit bis zum Espresso und dem Bezahlen der Rechnung füllen wir mit anderen Themen oder vertiefen die beiden Beiträge. Dieses Format nenne ich für mich den „News-Lunch“. Nach jedem News-Lunch spaziere ich beschwingt ins Büro zurück. Ein solches Mittagessen war – zumindest für mich – noch nie ein Flop.

Es liegt auf der Hand, die Idee des News-Lunches mit den beiden fünfzehnminütigen Beiträgen weiterzudenken und sie für mehr Menschen zu öffnen, die nicht nur Lust auf Fisch, Fleisch oder Vegi haben, sondern auch auf frische Ideen. Und zwar so: In einer Stadt miete man einen Raum oder ein Restaurant, wo regelmäßig News-Lunches stattfinden sollen. Über eine App oder Website kann man sich für den News-Lunch des Tages anmelden (und gleich bezahlen). Jeden Werktag um 12 Uhr geht’s los. Zwei knackige Vorträge à fünfzehn Minuten und ein gesundes Mittagessen. Konkret: Ein Journalist präsentiert während fünfzehn Minuten seine wichtigste aktuelle Story. Eine einzige, nicht zwei oder drei. Der Fokus liegt nicht auf der Schlagzeile, sondern auf dem Kontext. Das Handwerk, also wie der Journalist an dieser Story arbeitet, die Atmosphäre, das Kolorit, muss Teil der Präsentation sein. Je lokaler die Story, desto relevanter wird sie für die meisten Teilnehmer sein.

Danach präsentiert ein Wissenschaftler (oder ein Journalist, falls er gleichzeitig ein Fachmann ist) eine Story, die es kaum in die Medien schaffen würde, weil sie sich langsam entwickelt, abstrakt ist, keine knalligen Bilder bietet und nicht an Personen aufgehängt werden kann. Dieser zweite Vortrag dauert ebenfalls fünfzehn Minuten. Nach den zwei Vorträgen gibt’s ein gesundes, zügiges Mittagessen – entweder Selbstbedienung oder serviert. Der ganze News-Lunch inklusiv Essen dauert 60 bis maximal 75 Minuten.

Worüber wird wohl während des Essens diskutiert? Über die beiden Themen natürlich. Es gibt keine bessere Steilvorlage für intelligente Tischgespräche. Kommt hinzu, dass man als Teilnehmer jedes Mal neue Menschen trifft, die ebenfalls darauf aus sind, die „Generatoren der Welt“ zu verstehen. Kurzum, der News-Lunch ist eine geistige, kulinarische und soziale Veredelung der Mittagspause.

Wer soll solche News-Lunches organisieren? Das können Restaurants sein, unternehmerische Privatpersonen oder die Medienhäuser selbst – dass jeder News-Lunch-Teilnehmer ein potentieller Abonnent ist, versteht sich von selbst. In großen Städten hat es sicher Raum für mehrere, sich im Wettbewerb überbietende News-Lunches. Mit der Zeit werden die Gäste wissen, wo sich die interessanteste Crowd zum Lunch versammelt und wo die relevantesten Beiträge zu hören sind.

Vielleicht wächst aus dieser Idee eine Bewegung, die sich auf mehrere Städte ausbreitet. Angenommen, Sie sind in einer fremden Stadt, es ist Mittag, und Sie kennen niemanden, mit dem Sie essen gehen könnten. Natürlich könnten Sie in irgendeinem Joint allein in einer Ecke sitzend einen Hamburger verdrücken. Doch was gäbe es Gescheiteres, als den News-Lunch dieser Stadt aufzusuchen: Garantiert intelligente Inhalte, garantiert gesundes Essen, garantiert spannende Menschen. Und alles mit einem vertrauten Ablauf und zu einem fairen Preis. Vielleicht, wer weiß, entwickelt sich daraus eine Art weltumspannende Community ohne formelle Mitgliedschaft. Menschen, die genug haben vom Kurzfutter der klassischen News und begierig sind, die Welt besser zu verstehen.

„Avoid trifling conversations“ lautete eine von Benjamin Franklins dreizehn Maximen – „Reden Sie nicht über Belangloses“. Das gilt ganz besonders bei Tisch: Ein gutes Mittagessen ist in jeder Beziehung nahrhaft.

 

Rolf Dobelli, März 2019

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