Weniger lesen, aber aus Prinzip doppelt
Eine Mehrfahrtenkarte der SBB hat sechs Felder. Vor jeder Fahrt stecken Sie die Karte in den orangefarbenen Entwertungsautomaten, der Datum und Uhrzeit stempelt und eine winzige Ecke am linken Rand wegfrisst. Sind alle sechs Felder abgestempelt, ist die Karte aufgebraucht und wertlos.
Stellen Sie sich nun eine Buchlesekarte mit fünfzig Feldern vor. Gleiches System: Bevor Sie ein Buch lesen, müssen Sie ein Feld entwerten. Doch im Unterschied zur Mehrfahrtenkarte der SBB ist es die einzige Buchlesekarte Ihres Lebens. Es wird Ihnen unmöglich sein, eine neue zu beziehen. Ist die Karte aufgebraucht, können Sie keine neuen Bücher mehr aufschlagen – und im Gegensatz zum Schwarzfahren auch nicht Schwarzlesen. Fünfzig Bücher für das ganze Leben – für viele Menschen ein „non-issue“, für Sie als NZZ-Leser eine entsetzliche Vorstellung. Wie soll man mit so wenig Büchern halbwegs zivilisiert durchs Leben kommen?
Meine private Bibliothek besteht aus 3000 Büchern – ungefähr zu je einem Drittel gelesen, angelesen oder ungelesen. Regelmässig kommen neue hinzu, und im Jahrestakt miste ich aus und werfe alte weg. 3000 Bücher, das ist eine bescheidene Bibliothek im Vergleich etwa zu jener des verstorbenen Umberto Eco (30’000 Bücher). Und doch kann ich mich oft nur noch vage erinnern, was überhaupt darin stand. Wenn ich meinen Blick über die Buchrücken schweifen lasse, steigen Ahnungen auf wie Wolkenfetzen, untermischt mit schwammigen Gefühlen, eine einsame Szene blitzt hier und da hervor, und manchmal treibt ein Satz vorbei wie ein verlorenes Ruderboot im stillen Nebel. Selten gelingt mir eine kompaktes Resumé. Bei einigen Büchern kann ich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob ich sie jemals gelesen habe. Ich muss sie dann aufschlagen und nach verknitterten Seiten oder Randnotizen suchen. In solchen Momenten weiß ich nicht, was beschämender ist: mein löchriges Gedächtnis oder der offenbar bescheidene Wirkungsgrad vieler Titel. Was mich tröstet: dass es vielen Freunden nicht anders ergeht. Und das nicht nur bei Büchern, sondern auch bei Essays, Reportagen, Analysen, Texten aller Art, die ich einst mit Genuss gelesen hatte. Wenig bleibt hängen, jämmerlich wenig.
Was ist der Sinn einer Lektüre, wenn der Inhalt zum großen Teil versickert? Natürlich, das momentane Erlebnis des Lesens zählt auch, keine Frage. Doch ebenso zählt das momentane Erlebnis einer Crème Brûlée, von der man jedoch nicht erwartet, dass sie den Charakter ihres Verschlingers formt. Woran liegt es, dass so wenig von unserer Lektüre haften bleibt?
Wir lesen falsch. Wir lesen zu wenig selektiv und zu wenig gründlich. Wir lassen unserer Aufmerksamkeit freien Lauf, als wäre sie ein zugelaufener Hund, den wir gleichgültig weiterstreunen lassen, anstatt ihn auf prächtige Beute abzurichten. Wir verschleudern unsere wertvollste Ressource an Dinge, die sie nicht verdient haben.
Heute lese ich anders als noch vor wenigen Jahren. Zwar genauso viel wie früher, aber weniger Bücher, dafür bessere, und zweimal. Ich bin radikal selektiv geworden. Ein Buch verdient maximal zehn Minuten meiner Zeit, danach fällt der Richterspruch – lesen oder nicht lesen. Das Bild der Mehrfahrtenkarte unterstützt mich in meiner Radikalität. Ist das Buch, das ich in meinen Händen halte, ein Buch, für das ich ein leeres Feld meiner Lochkarte zu opfern bereit bin? Die wenigsten sind es. Und jene, die es sind, lese ich zweimal, und zwar direkt nacheinander. Aus Prinzip.
Ein Buch doppelt lesen? Warum nicht. In der Musik sind wir es gewohnt, Tracks mehrmals zu hören. Und wer ein Instrument spielt, weiss, dass man eine Partitur nicht nach dem einmaligen Ab-Blatt-Spielen beherrscht, sondern erst nach vielen Iterationen mit voller Konzentration – bevor man zum nächsten Stück eilt. Warum nicht ebenso mit Büchern?
Der Wirkungsgrad des zweimaligen Lesens ist nicht der doppelte Wirkungsgrad des einmaligen Lesens. Er liegt viel höher – nach eigener Erfahrung schätze ich den Faktor auf zehn. Bleiben mir nach dem einmaligen Lesen 3% des Inhalts hängen, sind es nach dem doppelten Lesen 30%.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel man bei langsamem, konzentriertem Lesen absorbiert, wie viel Neues man beim zweiten Durchgang entdeckt, und wie sehr sich das Verständnis durch diese bedächtige Leseart erweitert. Als Dostojewski 1867 in Basel Holbeins „Der Leichnam Christi im Grabe“ betrachtete, war er so sehr von dem Gemälde gefangen, dass seine Frau ihn nach einer halben Stunde wegzerren musste. Zwei Jahre später konnte er dieses Gemälde im Roman Der Idiot in fast fotografischen Details wiedergeben. Hätte ein Schnappschuss mit dem iPhone den selben Effekt gehabt?
Wohl kaum, es brauchte dieses Eintauchen in das Gemälde, damit der grosse Romancier etwas Produktives damit anfangen konnte. Eintauchen ist hier das Schlüsselwort. Eintauchen – das Gegenteil von Surfen.
Vier Präzisierungen zum Schluss. Wirkungsgrad – das klingt technisch. Darf man so über Bücher urteilen? Ja, diese Art des Lesens ist nutzenorientiert und unromantisch. Sparen Sie sich die Romantik für andere Aktivitäten. Hinterlässt ein Buch keine Spuren im Hirn – weil es ein schlechtes Buch ist oder man es schlecht gelesen hat – empfinde ich das als Zeitverschwendung. Ein Buch ist etwas qualitativ anderes als eine Crème Brûlée, ein Alpenrundflug oder Sex.
Zweitens: Krimis sind von der Lochkarte ausgenommen, man kann sie mit wenigen Ausnahmen nicht zweifach lesen. Wer will schon einem bekannten Mörder begegnen?
Drittens: Sie müssen sich entscheiden, wie viele Felder Ihre persönliche Lese-Lochkarte haben soll. Ich habe mich auf 100 Felder für die nächsten 10 Jahre beschränkt. Das sind durchschnittlich 10 Bücher pro Jahr – was für einen Schriftsteller kriminell wenig ist. Doch, wie gesagt, ich lese diese exzellenten Bücher doppelt, manchmal sogar dreifach, mit grossem Genuss und zehnfacher Wirkungskraft.
Viertens: Wenn Sie noch jung sind, sagen wir im ersten Drittel Ihres aktiven Leselebens, sollten Sie so viele Bücher verschlingen wie möglich – Romane, Kurzgeschichten, Lyrik, Sachbücher aller Couleur, wild durcheinander und ohne Rücksicht auf Qualität. Lesen Sie sich voll. Warum? Dies hat mit einer mathematischen Optimierung zu tun, die man das Secretary Problem nennt. In der klassischen Formulierung geht es darum, die beste Sekretärin aus einer Menge Bewerberinnen zu finden. Die Lösung besteht darin, sich ein repräsentatives Bild der Grundverteilung zu verschaffen, indem man die ersten 37% der Bewerberinnen zwar interviewt aber ablehnt. Die Details sind auf Wikipedia nachzulesen. Durch dieses wilde Lesen, oder – statistisch gesprochen – durch diese vielen Stichproben im ersten Drittel des Leselebens verschaffen Sie sich ein repräsentatives Bild der literarischen Grundverteilung. Sie schärfen Ihr Urteilsvermögen – was es Ihnen später erlauben wird, radikal selektiv zu sein. Legen Sie sich die Lese-Lochkarte also erst im Alter von ungefähr 40 zu. Dann aber halten Sie sich streng daran. Nach 40 ist das Leben ohnehin zu kurz für schlechte Bücher.
Erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27.8.2016