So funktioniert die Welt
Ein Loblied auf die Normierung.
von Rolf Dobelli
Versuchen Sie, einen Turm zu bauen, indem Sie unregelmässig geformte Steine aufeinanderstapeln. Das ist möglich; manchmal erreicht man eine Höhe von acht, neun, zehn Steinen. Solche menschengemachte «Zen-Steintürme» oder «Steinmannli» findet man an Flussufern und auf Berggipfeln. Sie halten eine Weile, dann bläst der Wind sie um, oder ein Vogel landet darauf und bricht die Steintürme ins Knie. Welche Beziehung besteht hier zwischen Geschick und Höhe? Nehmen Sie einigermassen runde Steine von einem Flussufer. Ein zweijähriges Kind wird zwei Steine hoch bauen können; ein dreijähriges mit weiter entwickelter Hand-Augen-Koordination schafft drei. Es braucht Erfahrung, um bis zu acht Steinen zu kommen. Und nur mit enormer Geschicklichkeit und einer Menge von Trial-and-Error-Versuchen bringt man es auf mehr als zehn. Fingerfertigkeit, Geduld und Erfahrung stossen irgendwann an Grenzen.
Alles wird einfacher
Machen Sie jetzt dasselbe Experiment mit LEGO-Bausteinen. Sie können viel höher bauen – und wichtiger noch: Ihr Dreijähriger kann ebenso hoch bauen wie Sie. Warum? Dank Normierung. Die Stabilität resultiert aus der standardisierten Geometrie der Einzelteile. Der Vorteil, den die Geschicklichkeit verschafft, schrumpft gewaltig. Die Geometrie der LEGO-Klötze korrigiert die Ungenauigkeiten der Hand. Aber strukturelle Stabilität ist bei weitem nicht der grösste Bonus der Normierung. Der Gewinn, den die Zusammenarbeit unter den Menschen daraus zieht, ist ungleich bedeutsamer.
Im Jahr 1840 gab es in den USA mehr als 300 Eisenbahngesellschaften, deren Schienennetze ganz unterschiedliche Spurweiten aufwiesen. Viele Betriebe weigerten sich, der Einführung einer normierten Spurweite zuzustimmen, denn damit wären die lokalen Monopole über die Benutzung von Lokomotiven und Waggons gefallen. Wo die Schienenstränge zweier Gesellschaften aufeinandertrafen, musste die gesamte Fracht abgeladen, manchmal auch zwischengelagert und dann auf andere Waggons verladen werden. In einer Reihe von Einzelschritten – manche von oben verordnet, viele aber mittels freiwilliger Koordination unter den Eisenbahngesellschaften vollzogen – gelangte man schliesslich 1886 zu einer übergreifenden Normierung des Schienennetzes. In anderen Ländern wurden ähnliche «Spurweiten-Kriege» ausgefochten; England beendete den seinigen 1856 mit einem Gesetzesbeschluss.
Genau hundert Jahre später, 1956, erfand der Amerikaner Malcom Mc Lean den standardisierten Frachtcontainer – den Legostein der globalen Logistik. Die Transportkosten für internationale Gütertransporte sanken auf einen Schlag um 90%. Nicht nur das. Weil nun schneller verladen werden konnte, reduzierten sich auch die in der Fracht gebundenen Kapitalkosten. Globalisierung ohne den normierten Frachtcontainer wäre undenkbar.
Bis zum Grund des Seins
Wie gelangt man am besten zu optimalen Normen? Während die Spieltheorie (Koordinationsspiele) hierzu einen reichen Erkenntnisfundus bietet, ist es in der realen Welt gar nicht so einfach, optimale Normen unter den einzelnen Akteuren zu vereinbaren. Aber die Vorteile, die selbst sub-optimale Normen bringen, sind gewaltig. Selbst imperfekte Normen sind dem Verzicht auf Koordination bei weitem vorzuziehen. Nennen wir die Summe des theoretischen und praktischen Wissens, das Management und Spieltheorie bereitstellen, die «spezielle Normentheorie» – vergleichbar mit Einsteins spezieller Relativitätstheorie.
Aber die Idee der Normierung hat unendlich mehr Potenzial, und das könnte letztlich zu einer «Allgemeinen Normentheorie» führen. Sehen wir uns nur ein paar Bereiche an, die auf dem Prinzip der Normierung beruhen.
Da wäre zunächst die Materie, die sich vom Elementarteilchen über die standardisierten Atome des Periodensystems bis hin zu einer unendlichen Zahl unterschiedlicher Moleküle entwickelt. Chemie ist wie Lego, und darum so mächtig. Das einfache Vorhandensein von Substanz reicht offenbar nicht aus, um ein Universum entstehen zu lassen; vielmehr scheint es dazu normierter Einheiten von Substanz zu bedürfen. Wenn wir diese Tatsache unter dem Gesichtspunkt einer «Allgemeinen Normentheorie» betrachten, dann stellt sich die Frage: Handelt es sich dabei um die optimale Norm oder nur um ein lokales Maximum?
Auch die lebende Materie bietet Beispiele. Eine Zelle kann nur mit standardisierten «Bauteilen» funktionieren (Aminosäuren, Kohlehydrate, DNA, RNA, usw.). Wäre etwas so Komplexes wie eine Zelle ohne Normierung überhaupt funktionsfähig? Eine «Allgemeine Normentheorie» könnte vielleicht aufzeigen helfen, wie viel Komplexität sich ohne Normierung erreichen lässt.
Wenn wir die Evolutionskette bis auf die Ebene der Biologie weiterverfolgen, wäre zu überlegen, wie eine grosse Zahl separater Individuen dazu gebracht werden kann, flexibel zu kooperieren. Manche Anthropologen denken, die Antwort liege in der Erfindung der Religion. Andere verweisen auf die Evolution des moralischen Empfindens, die Erfindung schriftlich niedergelegter Gesetze oder auf Adam Smiths «unsichtbare Hand». Meiner Ansicht nach ist Normierung zumindest ein Teil der Lösung. Zwar können Menschen in grosser Zahl dank anderer bekannter Mechanismen auch ohne Standards kooperieren. Aber irgendwann überrunden Gruppen, die Standards anwenden, diejenigen, die das nicht tun.
Gibt es irgendwo eine Schwelle, an der eine Kooperation, die nicht durch Standardisierung gestärkt ist, zusammenbricht? Meine Hypothese: Ja, aber ich setze diese Schwelle wesentlich höher an als Robin Dunbar, der sie bei etwa 150 Individuen erreicht sieht; möglicherweise liegt sie bei etlichen Zehntausend. Interessanterweise hat ausser dem Homo Sapiens keine andere Spezies sich auf Standardisierung verlegt. Aber sogar die Menschen brauchten lange bis zu diesem Entwicklungsschritt – bis ins 5. Jahrtausend v. Chr. Erst dann begannen die Normierung der Sprache (durch die Schrift), die Normierung des Werts (durch Geld) und die Normierung des Gewichts durch feste Einheiten.
Der schlechte Ruf der Normierung
In letzter Zeit hat Normierung einen schlechten Ruf bekommen: Euro, normierter Schulstoff, standardisierte Prüfungen (und damit die Tendenz, für Tests und nicht für Wissen zu lernen), die undurchdachte QWERTZ-Tastatur. Sub-optimale Standards scheinen sehr “klebrig” zu sein.
Normierung behindere Kreativität und reduziere die Vielfalt – so die Hauptkritik. Doch Normierung beflügelt Kreativität und Vielfalt viel stärker als sie sie verhindert. Erst als die Stimmung der zwölf Töne zwischen einer Oktave im 17. Jahrhundert normiert wurde – zuerst wohltemperiert, später gleichstufig – war der Boden für reichhaltige, komplexe Kompositionen geebnet – von Bach bis zum Miles Davis. Vergleichen Sie ein beliebiges Bach-Konzert mit einem frühen Gregorianischen Choral mit seiner nicht-normierten Notierung und seiner nicht-normierten Stimmung, und Sie hören den Unterschied. Normierung erlaubt es, Oktave auf Oktave, Melodie auf Melodie zu türmen – und so das ganze hörbare Spektrum zu eröffnen. Die Normierung der Instrumente, der Notation und der Stimmung ermöglicht Orchester von über 200 Musikern mit dutzenden unterschiedlicher Stimmen individuell zu üben und gemeinsam zu musizieren. Musik vor dem Barock, das sind Türme aus irregulären Steinen. Musik seither ist wie Lego – unendliche Kreativität und Vielfalt durch Normierung der Teile.
1937 reichte der 21jährige Claude Shannon am Massachusetts Institute of Technology seine Masterarbeit ein. Darin beschreibt er, wie beliebige Signale in normierte Einsen und Nullen umgewandelt werden können, um bei der Übertragung keine Information zu verlieren. Shannon begründete damit die Digitalisierung, dessen Tsunami heute alle Lebensbereiche erfasst hat. Nicht schlecht für einen 21jährigen Studenten. Shannons Thesenpapier gilt als die wichtigste und die am meisten zitierte Masterarbeit des 20. Jahrhunderts. Normierung war schon immer eine Triebkraft von Kreativität, doch noch nie in dem Ausmass, wie wir sie heute, im digitalen Zeitalter, erleben.
Viele Menschen verkennen ausserdem, dass Normierung in den meisten Fällen bottom-up entsteht, durch freiwillige, teilweise stillschweigende Übereinkommen der Akteure. Nur in den seltensten Fällen ist Normierung ein top-down Phänomen wie beim Geld, dem obligatorischen Schulstoff, oder dem militärischem Training.
Fazit: Wir unterschätzen systematisch die Kraft, die in der Normierung steckt. Auf den ersten Blick erscheint sie wie ein preussisches Relikt oder eine Denkhaltung aus der Sowjet-Ära. Doch im Grunde ist Normierung der wahre Motor des Fortschritts, der Vielfalt und der Kreativität.
Erschienen in der Neuen Zürich Zeitung vom 25.1.2017